
Gedichte, die die Gesellschaft heilen: Interview mit Hilda Raz
Hilda Raz, Schriftstellerin und Lehrerin, ist eine Lyrikerin, die sich mit großem Engagement sozialen Themen widmet. Mit ihrem Werk hat sie jüngere Generationen dazu inspiriert, Gedichte als ihre stärkste Waffe zu begreifen und kreativ zu nutzen. Wir haben sie zum Interview getroffen.
Dichter:innen sind Kulturschaffende, die das Schreiben von Poesie zu ihrem Lebensprojekt, ihrer Leidenschaft, ihrem Laster oder ihrem Mittel des Widerstands und der Kommunikation gemacht haben. Poesie ist eine Waffe der Befreiung, und derdie Dichterin ist ein Mensch voller Sensibilität, derdie Worte als Instrumente der Erhebung für all das Schönste auf der Welt einsetzt. Doch gleichzeitig ist die Poesie auch eine kraftvolle Stimme für Gerechtigkeit – besonders dann, wenn Dinge schieflaufen.
Die Aufgabe von Dichter:innen ist es, Bewusstsein zu schaffen und den Menschen zu mehr Menschlichkeit und Verständnis für die Ungerechtigkeiten zu verhelfen, denen andere ausgesetzt sind. Vielleicht wird die Kraft der Poesie eines Tages ein Teil der politischen Wirklichkeit sein. In Büchern, aber auch auf Straßen, Mauern, Bäumen oder in Zeitungen – Poesie kann überall auftauchen. Jeder Ort kann uns daran erinnern, dass es sie noch gibt: die Gedichte und die Dichter:innen.
Hilda Raz, Schriftstellerin und Lehrerin, ist eine Lyrikerin, die sich mit großer Klarheit und Empathie sozialen Fragen widmet. Mit ihrer Arbeit hat sie jüngere Generationen inspiriert, Gedichte als kraftvolle Werkzeuge des Ausdrucks und der Veränderung zu nutzen. Ihre Texte sind geprägt von prägenden Momenten ihres Lebens – darunter der Transition ihres Sohnes, die sie in Trans und What Becomes You gemeinsam mit ihm verarbeitete: zwei Mutter-Sohn-Kollaborationen, bestehend aus einem Gedichtband und einer Memoirensammlung.
High summer again; I am in its keeping.
Monsoon rains washed out our road.
The rabbits‘ number escalates, more
and more each morning as we walk.
Through my dark glasses the world
continues its flicker. Aware, I’m here.
– from „Credo 23“.
Raz begann schon als Kind zu schreiben. Ihre Mutter legte ihr einen Bleistift in die Hand (sie war – und ist – Linkshänderin), und sie erinnert sich noch heute an das taktile Vergnügen, das Ziehen und Schieben über das Papier. Zeichnen lag ihr nicht besonders, doch die Buchstaben und Wörter, die sie kannte, reichten aus, um sie vollkommen zu fesseln.
Trotz ihrer jahrzehntelangen Schreiberfahrung sieht sich Raz nicht in der Position zu beurteilen, ob sich ihr Schreiben über die Jahre weiterentwickelt hat. „Ich bin Kritikerin – aber für die Werke anderer Autorinnen“, sagt sie. Ihre Inspiration findet sie im Alltäglichen: Nachrichten, Natur, eigene und beobachtete Erlebnisse, Lektüre, Körpererfahrungen, menschliche Schwächen, Kulturen, Wandel. Auch ihre Schülerinnen sind bis heute eine Quelle der Inspiration: „Ihr Leben macht mir Hoffnung – jede*r einzelne, im Unterricht und darüber hinaus – sie gehen auf andere zu: neues Leben. Ein Kontinuum.“
Das Schreiben war für Raz zeitlebens eine Form von Therapie – besonders in schwierigen Zeiten. Es habe ihr auf geheimnisvolle Weise immer geholfen: „Etwas an dem Prozess, beim Schreiben Muster zu erkennen …“ In ihrem Buch Divine Honors beschreibt sie ihren Weg mit Brustkrebs – als Zusammenarbeit von Körper und Geist im Heilungsprozess. Sie schrieb und schrieb, um jedes innere und äußere Ereignis zu dokumentieren, um sich gegen die konventionellen Narrative zu stellen und ihre eigene Sprache dafür zu finden.
Mit nichts als ihren Worten gelingt es ihr, jedes noch so kleine Detail auszudrücken: „Die Klänge der Wörter leiten mich, Zeilenumbrüche und Formen führen meine Sprache von einem Wort zum nächsten. Sätze im Spannungsverhältnis zur Syntax.“ Dennoch gibt es Themen, über die nur schwer zu schreiben ist: „Ich scheine mit jedem Gedichtband auch ein erzählendes Buch zu schreiben. Deshalb waren Trans und What Becomes You die schwierigsten Bücher für mich. Ich war zugleich Mutter eines trans Sohnes und Autorin, die die Erfahrung dokumentierte und verarbeitete. Keine einfache Aufgabe. Aaron war in dieser Zeit sehr großzügig und geduldig.“
„I’m a good teacher but as that famous writer said,
nobody teaches life anything.
Life keeps moving, an infinity pool
falling invisibly over some edges.“
–from „Nobody Teaches Life Anything“ — Gabriel García Márquez.

What Becomes You, gemeinsam geschrieben von Raz und ihrem Sohn Aaron, der als Mädchen namens Sarah geboren wurde, ist ein Gespräch zwischen Elternteil und Kind. Während sie die Gedichte für Trans schrieb, wurde Raz bewusst, dass die Erfahrung des Geschlechtswechsels ganz Aaron gehörte – und dennoch hatte sie als Mutter ihre eigene, einzigartige Perspektive. Schließlich war sie es, die Sarah großgezogen hatte. Diese Erkenntnis bildete die Grundlage ihrer Zusammenarbeit an What Becomes You: „Wir mussten miteinander sprechen, versuchen, einander auf neue und herausfordernde Weise zu verstehen. Das Buch hat zehn Jahre gebraucht. Es wurde 2021 in einer Neuauflage mit neuen Lesernotizen von der University of Nebraska Press wiederveröffentlicht.“
Als Frau musste Raz sich ihren Weg stets erkämpfen. Als sie Chefredakteurin der Literaturzeitschrift Prairie Schooner wurde, achtete sie darauf, dass die Beiträge in ihrer Zeitschrift so vielfältig wie möglich waren – in jeder Hinsicht. „Damals waren Frauen unter den Autorinnen literarischer Quartalszeitschriften eine Seltenheit. Und ich war eine der ganz wenigen weiblichen Herausgeberinnen eines bedeutenden Journals“, sagt sie. Viele Frauen ihrer Generation berichten von denselben Erfahrungen. Raz hat deshalb hart gearbeitet, um sich selbst und anderen Frauen ihren Platz zu erkämpfen – im Kollegium, unter ihren Schüler:innen, unter Autor:innen und in der gesamten Literaturbranche.
In naher Zukunft möchte sie weiterhin Gedichte schreiben – ein Großteil ihres neuen Buchs befindet sich bereits auf ihrem Computer. Darüber hinaus plant Raz ein weiteres gemeinsames Projekt mit ihrem Sohn Aaron: „Er kommt in ein paar Wochen nach New Mexico, um mögliche Ideen mit mir zu besprechen.“ Außerdem ist sie weiterhin als Herausgeberin tätig – sie arbeitet im Lektorat von Bosque Press in Albuquerque und ist Serienherausgeberin der Mary Burritt Christiansen Poetry Series an der University of New Mexico Press. „Diese redaktionellen Möglichkeiten, bisher ungehörten Stimmen Gehör zu verschaffen, erfüllen mich mit Freude.“
Words: ANE BRIONES
Illustration: FABIA RODI