Human Touch: Berliner Marke macht Mode wieder menschlich

Human Touch ist eine noch relativ junge Marke, die in der Berliner Modeszene Fuß gefasst hat. Doch die Ambitionen des Labels gehen weit über Mode allein hinaus. In diesem Interview sprechen die Gründerinnen – Juliet Seger und Christina Albrecht – mit uns über die Ursprünge ihrer Marke, aktuelle Projekte und ihre Mission: den menschlichen Anteil sichtbar zu machen, der für die Entstehung eines Kleidungsstücks unverzichtbar ist.

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Das Unsichtbare sichtbar machen“ lautet ein Satz auf der Website von Human Touch, einer neuen Berliner Marke, gegründet von den Designerinnen Juliet Seger und Christina Albrecht. Das Label präsentiert Kollektionen, deren Kleidungsstücke mit charakteristischen, einzigartigen Mustern versehen sind. Auf den ersten Blick wirken diese Markierungen wie rein ästhetische Designentscheidungen. Bei näherem Hinsehen jedoch erkennt man, dass es sich in Wahrheit um Fingerabdrücke handelt.

Seger nutzt eine kreative Technik namens „Paint-Sewing“, bei der sie ihre Finger vor und während des Nähprozesses in Farbe taucht. Jedes Kleidungsstück erhält dadurch ein individuelles Muster, das direkt aus dem Umgang mit dem Stoff entsteht. Die Markierungen verdichten sich an den Stellen des Kleidungsstücks, die besonders aufwendig zu nähen sind, und treten dort weniger auf, wo die Arbeit weniger komplex ist. So entsteht eine Art Landkarte der Arbeit und Energie, die in die Herstellung der Kleidung fließt, die wir tragen und wertschätzen. Die Textilfarbe wird dauerhaft auf der Faser fixiert und ermöglicht eine reguläre Nutzung.

Im Zeitalter des Spätkapitalismus wächst die Kluft zwischen Produzentinnen und Konsumentinnen immer weiter. Besonders stark zeigt sich dies in der Modeindustrie, in der immer wieder von Sweatshops in Ländern des globalen Südens und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen berichtet wird. Die Branche hat sich in eine unerbittliche Maschine verwandelt, die unablässig neue Waren ausspuckt, während die menschliche Arbeit dahinter zu bloßen Zahnrädern degradiert wird. Trotz technologischer Fortschritte ist die Modeindustrie nach wie vor stark von Handarbeit abhängig – und dennoch vergessen wir oft, dass unsere Kleidung von Menschen hergestellt wird. Human Touch möchte genau diese Kluft zwischen den essenziellen Textilarbeiterinnen und den täglichen Trägerinnen von Kleidung thematisieren.

Die Marke wurde erstmals während der Berlin Fashion Week 2023 vorgestellt, wo sie ihre Kollektion präsentierten – begleitet von Live-Performances, die die Paint-Sewing-Technik demonstrierten. Alle Kleidungsstücke von Human Touch werden auf Bestellung gefertigt. Zudem bietet das Label eine Upcycling-Linie namens Human Touch Remedy an, die aus Secondhand-Kleidung besteht, die angepasst und repariert wurde.

Wir hatten das Vergnügen, sie zu interviewen.

Juliet Seger and Christina Albrecht working in their studio © Human Touch

Kannst du uns etwas über den Ursprung eurer Marke erzählen? Wie ist die Idee zu Human Touch entstanden?

Während ihrer akademischen Forschung entwickelte Juliet die Technik des Paint-Sewing, die später zu unserem Markenzeichen wurde – ein Weg, die Berührung jedes Kleidungsstücks durch menschliche Hände weltweit sichtbar zu machen.
Einige Jahre lang existierte HUMAN TOUCH als Projekt. Erst im vergangenen Jahr haben wir unsere Kräfte gebündelt, um das Konzept weiterzuentwickeln, es zu einer Modemarke auszubauen und zugleich die Grundlage zu schaffen, das aktivistische Potenzial zu nutzen, das in der HUMAN TOUCH-Idee steckt. Wir möchten etwas aufbauen, das einen positiven Nettoeffekt hat und zugleich die Mode in all ihren spielerischen, edgy und künstlerischen Facetten feiert.

 

Wenn ihr das Wesen von Human Touch in drei Worten beschreiben müsstet – welche wären das?

Prägnant, tragbar, optimistisch.

 

Human Touch ist nicht nur für den „human touch“ selbst bekannt, sondern auch für seine markante Ästhetik. Wie würdet ihr den Stil der Marke beschreiben, und was beeinflusst diese Ästhetik?

Man könnte sagen: Die Form folgt dem Konzept… Um unsere einzigartige Drucktechnik hervorzuheben, konzentrieren wir uns auf klare Silhouetten und neutrale Farben. Alle unsere Stücke sind dafür gemacht, im Alltag getragen zu werden – jeden Tag und von jedem Körpertyp. In unserer Kollektion streben wir danach, unkomplizierte, vielseitige Silhouetten anzubieten, die als tragbare Leinwand für unsere Botschaft dienen können.
Und da Juliet und ich seit unserer Teenagerzeit – eigentlich schon davor – gerne mit Mode experimentieren, finden sich unsere persönlichen Einflüsse aus Pop- und Subkultur ebenfalls in unseren Designs wieder.

 

Juliet Seger and Christina Albrecht of Human Touch © Human Touch

Welche Rolle spielt Storytelling in eurer Marke und wie vermittelt ihr eure Narrative durch eure Kollektionen?

Wir beziehen uns kontinuierlich auf jene Geschichte, die uns am meisten fasziniert: den Wert, den jedes Kleidungsstück in sich trägt – vererbt durch die menschlichen Hände, die es gefertigt haben. Das ist der unverrückbare Kern all unserer Kollektionen.

 

Könnt ihr uns durch euren Designprozess führen?

Für uns beginnt alles mit den Materialien. Unsere Stoffe stammen von Großhändlern und Deadstock-Händlern, von denen einige sogar ganze Rollen hochwertiger Textilien verkaufen, die aus großen Produktionsketten herausgefallen sind. Wir konzentrieren uns auf Naturfasern und regenerative Zellulose und legen wherever möglich Wert auf Rückverfolgbarkeit. Dabei fragen wir uns: Offenlegt dieser Großhändler seine Lieferkette? Wenn nicht vollständig, bis zu welchem Punkt? Arbeitet er daran? Und falls nicht, können wir die Informationen dennoch anfordern?

Wir versuchen, Faser-Mischungen und Synthetik zu vermeiden – insbesondere Elastan, wenn es nicht funktional notwendig ist. Es bleibt eine fortlaufende Aufgabe, Textilien zu finden, die unseren Anforderungen entsprechen, doch gerade diese scheinbare Einschränkung erleichtert es uns, in der Masse der Optionen den Überblick zu behalten.

Mit einem vielfältigen Publikum im Blick entwickeln wir anschließend transsaisonale Designs und beginnen die interne Sampling-Phase. Als ausgebildete Schneiderinnen und Schnittdirektorinnen testen wir das Verhalten der Stoffe, optimieren Passformen und entscheiden über Verarbeitungstechniken selbst.

Da die Platzierung unseres charakteristischen HUMAN TOUCH-Drucks durch die Position der Nähte bestimmt wird, gibt es stets diesen aufregenden Moment, in dem all unsere Designs zum Leben erwachen. Das Erscheinungsbild jedes fertigen Stücks ist einzigartig und trotz der Erfahrung unseres Teams bis zu einem gewissen Grad immer noch eine Überraschung. Genau darin liegt die Schönheit unseres Prozesses.

 

Ihr habt bereits betont, dass Human Touch immer zuerst ein Konzept und erst in zweiter Linie eine Modemarke sein wird. Mit welchen Herausforderungen seid ihr konfrontiert, wenn ihr euch in der Modeindustrie als Konzept- bzw. Aktivismusmarke positioniert?

In der Modeindustrie gibt es eine interessante Dynamik: Handwerkliche Designs werden zu Kunstwerken erhoben, gleichzeitig wird jedoch – traditionell – erwartet, dass man Stückzahlen skaliert. Das gilt als selbstverständlich und wird als Erfolgsmaßstab gesehen. Möglich wird dies meist durch das Outsourcing der Produktion und die Gewinnmarge auf „billige, gering qualifizierte Arbeit“. Mit HUMAN TOUCH wollen wir eine Alternative zu diesem gängigen Geschäftsmodell erforschen. In-house zu produzieren und innerhalb unseres unmittelbaren Teams zu fertigen, ist daher etwas, an dem wir festhalten möchten – nicht nur, weil wir Freude daran haben, sondern auch als praxisbasierte Forschung darüber, wie Modeproduktion anders funktionieren kann.

 

© Human Touch

„Der Wert, den jedes Kleidungsstück in sich trägt – vererbt durch die menschlichen Hände, die es gefertigt haben. Das ist der unverrückbare Kern all unserer Kollektionen.“

© Human Touch
© Human Touch
© Human Touch

Ihr Geschäftsmodell ist sehr interessant. Ihr habt Workshops, Performances und Pop-ups umgesetzt. Warum habt ihr euch für eine solche Struktur entschieden? Und welches dieser Formate ist eurer Meinung nach am wirkungsvollsten, um die Kernbotschaft eurer Marke zu vermitteln?

Da wir beide seit Jahren in der Mode arbeiten, sind wir von dem Wunsch motiviert, negative Dynamiken nicht zu reproduzieren. Mode ist für uns sowohl ein ästhetischer Spielraum als auch eine Plattform für empirische Forschung – ein Labor, in dem wir erforschen, wie sich unsere geliebte Branche neu gestalten lässt.
Die Aufklärung unseres Publikums über die Perspektive von Textilarbeiter*innen spielt dabei eine große Rolle. Ein Ziel ist es, unsere Kund*innen mit Wissen und Empathie auszustatten, sodass sie Kleidung nach ihrem tatsächlichen Wert beurteilen – also nach materiellen Ressourcen sowie intellektueller und handwerklicher Arbeit – statt nach dem häufig irreführenden Preis oder Markenlabel.

Diese flexible Struktur ermöglicht es uns, unterschiedliche Ansätze auszuprobieren, um mit unserem Publikum in Verbindung zu treten und gleichzeitig unser eigenes Wissen zu vertiefen. Welche Verknüpfung zwischen Konzept und Produkt funktioniert am besten, um unsere Botschaft zu vermitteln? Welche Kund*innen möchten die Idee tragen und welche primär die Ästhetik? Wie können wir unser Konzept weiterführen, ohne uns zu wiederholen? Und so weiter.

Unsere Marke operiert aus einer optimistischen Grundhaltung heraus, und wir haben viele weitere Ideen, wie wir HUMAN TOUCH als Modemarke ausdrücken und gleichzeitig das aktivistische Potenzial ausbauen können.

 

Eure Linie Human Touch Remedy basiert auf dem Upcycling von Vintage- oder Secondhand-Kleidung. Inwiefern kann Upcycling deiner Meinung nach zu einer nachhaltigeren Modeindustrie beitragen?

Ganz genau – wir wählen Stücke aus, die unserer Ästhetik entsprechen, und nähen die Nähte neu, um den ursprünglichen „human touch“ sichtbar zu machen. Diese Stücke können schneller hergestellt werden, was es uns ermöglicht, sie zu einem zugänglicheren Preis anzubieten – und damit auch das Konzept zugänglicher zu machen. Es fühlt sich zudem an wie eine Hommage an die qualifizierte Person, die das Kleidungsstück ursprünglich gefertigt hat.
Es gibt mehrere Drops pro Jahr mit Unikaten, die wir hauptsächlich über unseren Webshop oder Pop-ups verkaufen.

Nach unserem Geschmack aktualisieren wir auch Passform oder Verarbeitung. Es ist ein spielerischer, handwerklicher Prozess und zugleich eine Möglichkeit, unser Wissen zu Nähtechniken und Veredelungen weiter zu vertiefen – und eine ständige Erinnerung daran, wie viel menschliche Arbeit in jedem einzelnen Kleidungsstück steckt.

Vor diesem Hintergrund ist die stetig wachsende Menge an textilem Abfall auf unserem Planeten wirklich erschütternd. Die Folgen sind langfristige ökologische und ökonomische Schäden für Länder des globalen Südens wie Chile, Kenia, Ghana, Indonesien und viele andere.

Verglichen damit kann sich Upcycling manchmal wie ein Tropfen auf den heißen Stein anfühlen. Dennoch erinnern wir uns daran, dass Kund*innennachfrage das Angebot erfolgreich verändern kann – und dass wir uns immer noch in einer frühen Phase dieses Wandels befinden.
Upcycling-Mode muss zu einem Mainstream-Produkt werden, und jede Marke sowie jede Designer*in, die sich diesem Ansatz verschreibt, ist entscheidend, um dieses Ziel zu erreichen.

©Human Touch

Wir finden den Satz auf eurer Website „To envision the invisible“ besonders eindrucksvoll, denn „unsichtbar“ beschreibt treffend jene ausgebeuteten, unterbewerteten und unterbezahlten Gemeinschaften in der globalen Modeindustrie. Wen bezeichnet ihr als „die Unsichtbaren“, die ihr durch eure Arbeit sichtbar machen möchtet?

Wir freuen uns sehr, dass dieser Satz bei euch Resonanz findet… Vielen Dank! Es gibt ein sehr klares Vorurteil, dass billige Kleidung gleichbedeutend mit schlecht gemachter Kleidung sei. Diese Kausalität stimmt jedoch nicht, denn Hersteller*innen und Schneider*innen weltweit sind hochqualifizierte Fachkräfte. Diese Expert*innen sind oft die Wissensquelle für große kommerzielle Marken, die ihre Produktionsaufträge in eben diesen Fabriken platzieren. Trotzdem können große Modeunternehmen die Preise drücken – und letztlich tragen die qualifizierten Textilarbeiter*innen die finanzielle Last.

HUMAN TOUCH möchte jene Gruppe sichtbar machen, die so oft übersehen oder „nur bemitleidet“ wird. Wir wollen zeigen, dass Nähen keine „gering qualifizierte“ Tätigkeit ist – es ist so viel mehr. Aufgrund der Abhängigkeit von menschlicher Expertise und der enormen Zahl an Menschen, die weltweit nähen, sollte Nähtechnik als soziale Technologie verstanden werden – eine Technologie, die entscheidend dafür ist, ein besseres Modesystem zu untersuchen und zu gestalten.

 

Ihr habt zum zweiten Mal seit eurem Launch an der Berlin Fashion Week teilgenommen. Was hattet ihr diesmal geplant?

Wir haben unsere neuesten Arbeiten bei der Marke einer befreundeten Person präsentiert – sie heißt Souvenir und ist ebenfalls eine sehr spannende, aktivistische Marke.
Mit Fokus auf unsere lokale Community haben wir ein intimeres Event veranstaltet, mit Live-Nähen und Modelshootings vor Ort, um zu zeigen, was normalerweise hinter den Kulissen stattfindet. Außerdem haben wir unveröffentlichte HUMAN TOUCH Remedy-Stücke als exklusive Preview gezeigt und an unserer kommenden Kollektion gearbeitet – um unseren kreativen Prozess direkt mit unserer Community zu teilen.

 

Wie seht ihr die Zukunft der Mode und welche Rolle könnte Human Touch in dieser Zukunft spielen?

Das ist eine große und sehr schöne Frage! Es gab eine Zeit, in der es so schien, als könne man den negativen Seiten der Mode nichts mehr entgegensetzen. In den letzten zehn Jahren ist Fast Fashion zwar weiter gewachsen, aber gleichzeitig haben nachhaltige und innovative Ideen mehr Raum, Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit erhalten.
Wir sehen großartige Initiativen und Marken entstehen, die aufklären und die Branche verbessern. Auf der Suche nach Alternativen werden kleinskalige Konzepte gehört und nicht sofort als „funktioniert sowieso nicht“ abgetan. Designer*innen dürfen neue Geschäftsmodelle ausprobieren und weiterentwickeln, selbst nachdem sie sie auf den Markt gebracht haben.
Eine steigende Sensibilität für die Ambivalenzen von Nachhaltigkeit in der Mode ermöglicht Aussagen wie: „Ich habe nicht alle Antworten, aber ich glaube aus Grund Y an Idee X und probiere es aus.“ Natürlich gibt es Cancel Culture und Green-Hushing (wenn Marken ihre Nachhaltigkeitsinitiativen verbergen, um nicht des Greenwashings bezichtigt zu werden). Aber unser Eindruck ist: Wenn man die Authentizität seiner Motivation glaubhaft darlegen kann, gibt es ein erstaunlich offenes und positives Publikum.
(Das heißt nicht, dass es nicht immer einige Menschen geben wird, die allgemeine Emotionen in unproduktive, negative Kommentare in sozialen Medien verwandeln.)

 

Welchen Rat würdet ihr angehenden Modedesigner*innen geben, die sich in der Branche einen Namen machen wollen?

Träumt frei – und untermauert das anschließend mit Recherche.
Denkt kollaborativ. Findet heraus, was euch motiviert, und schafft/entdeckt einen Beruf, der genau das ermöglicht.

 

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