
Tea Horse Road | Mit all meinen Sinnen
Der heiße Tee, den ich soeben aufgebrüht habe, berührt meine Lippen und entfaltet seine majestätische Pracht genau hier. Eureka – der Duft von Aprikosen und holzigen Noten zieht mich zurück in die Vergangenheit, die Erinnerung reißt mich mit großer Zentrifugalkraft in die Gegenwart. Die Saga der berühmten Tea Horse Road und die Erlebnisse, die mit ihr verbunden sind, verzaubern noch heute viele Menschen – und schwingen in den mystischen Nuancen jedes Schlucks Pu’er-Tee nach.
In Gedanken reise ich entlang einer der längsten Handelsrouten der antiken Welt – über 3.000 Kilometer, beginnend im tiefen Süden Yunnans und endend in Tibet. Ich folge alten Pfaden, die heute durch die Entstehung luxuriöser Boutique-Hotels entlang der Lux Tea Horse Road* neues Leben eingehaucht bekommen und neue Geschichten schreiben.
Jeder Stein wirkt banal, und doch ist er ein Zeuge der Zeit, ein kleines Fragment dessen, was das Mosaik dieser einzigartigen Route – gestern wie heute – wiederbelebt: der Austausch zwischen Minderheiten, lokalen Kulturen und der Natur.
I LIJIANG (丽江市)
Ich rieche, ich schmecke
Der Wagen hält. Mein Puls flimmert, denn in der Ferne, wie ein schlafender Drache, wacht der Yulong – der Jade-Drachenberg – über die Stadt und über die versunkene Geschichte jener Händler, die einst über fünfhundert Kilometer aus dem Süden Yunnans zogen, um Tee nach Lhasa zu bringen. Aus dem Norden kamen tibetische Heilkunst, Kräuter und Felle.
In Lijiang spürt man den Geist einer pulsierenden Stadt. Ein Ort, einst Kreuzungspunkt der südwestlichen Seidenstraße und der legendären Tea Horse Road. Noch heute ein Schmelztiegel kultureller Einflüsse. Die Naxi – eine ethnische Minderheit Chinas – sind hier allgegenwärtig. Ich spüre diese kulturelle Präsenz, während ich durch die Gassen der Altstadt Dayan streife. Ein Labyrinth, das mich empfängt, das mich eintauchen lässt in neue Eindrücke. Immer wieder bleibt mein Blick an kunstvoll geschnitzten Holzornamenten hängen – sie zieren die Innenhöfe, die hier zhi heißen, mit einer stillen Würde. Ebenso eindrücklich sind die leuchtenden Farben auf der Straße.
Komplexe Muster der Naxi, florale, tierische oder abstrakte Motive, oft auf Ärmeln, Säumen oder entlang der Kragen platziert. Manchmal weckt die Dongba-Schrift – eine der wenigen erhaltenen Hieroglyphenschriften der Welt – meine Aufmerksamkeit wie ein innerer Ruf. Als wolle sie mich aus einem Tagtraum reißen. Denn so sehr ich mich der Vielfalt dieser Kultur hingebe, bleibt in mir eine Spannung. Ich bin noch nicht angekommen.
Etwas fehlt.
Mein Weg führt mich schließlich zu dem, was früher Gold bedeutete: Tee. In einer ruhigen Seitengasse der Altstadt scheint die Zeit zu verweilen. Die alten Dynastien leben hier weiter – im Teehaus von He Xiao Jun, dem ältesten Lijiangs. Hier wird Tee nicht nur verkauft, sondern zelebriert. In vielstufigen Aufgüssen lässt mich der Teemeister durch die Tiefe der Fermentation reisen. Auf meiner Zunge tanzt eine feine Adstringenz wie Seifenblasen. He Xiao Juns Hand führt die Teekanne mit Hingabe, das Wasser fließt, das Aroma des Pu’er steigt auf – klar, weich, mächtig.
Der Tee ist kraftvoll, kantig, wild. Er verdankt seine Stärke der großblättrigen Assamica-Varietät, seiner Herkunft im Süden Yunnans und dem uralten Fermentationsprozess. Ein Moment, in dem sich Stille und Harmonie verdichten. Ein Zustand der Hingabe.
Ich nehme ihn auf – und lasse los.
II SANGUSHUIA (三股水)
Ich höre
Der 5.596 Meter hohe Yulong 玉龙雪山 – der Jade-Drachenberg – gleitet langsam am Horizont davon. Mein nächster Rückzugsort liegt weiter nördlich, entlang der Tea Horse Road. Über immergrüne Hügel hinweg küsst das gelb-rote Abendlicht die traditionellen Ziegeldächer des Dorfs Sangushuia. Das Schicksal hält mich fest umklammert, als ich Rong Gui begegne – einem der letzten Menschen, die diese alte Route wirklich zu Fuß gegangen sind. Mit vier Jahren trat er seine erste Reise an – gemeinsam mit seinem Großvater. Seine letzte unternahm er 1988. Laut seinen Erzählungen erreichte er dabei eine Höhe von über 6.000 Metern, tief im Himalaya. Das stärkste Pferd lief stets an der Spitze, sagt er, doch Maultierverluste habe es dennoch gegeben. „Die Ladung kam immer an“, fügt er mit einem feinen Lächeln hinzu.
Ich höre ihm lange zu.
Die Nacht hüllt uns in Stille, und seine Worte tragen meine Gedanken weit – über Gipfel, durch Täler, entlang von Flüssen, die mich noch lange begleiten werden. Mein Geist fliegt, mein Körper bleibt ruhig. Beides in Einklang.
III SHANGRI-LA (香格里拉市)
Ich fühle
Ich tauche tiefer in die Berge ein, Richtung Norden. Mein Atem wird schwer, mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich spüre den Anstieg – die Luft wird dünner. Die tiefen Schluchten und hohen Pässe des Tibet-Qinghai-Plateaus fordern Kraft. Mit einem Maultier würde ich Monate brauchen. Vor mir liegt das Ziel: Zhongdian (中中), die erste größere Siedlung im ethnischen Tibet – und zu früherer Zeit der nächste bedeutende Handelsposten nach Lijiang. Mein Weg führt durch enge Täler, die sich tief in die steilen Berghänge schneiden – als hätte ein Obsidianmesser das Gebirge aufgeschlitzt. Jenseits des Horizonts scheint die Welt zu enden.
Ich beginne zu verstehen, warum die Stadt von den Behörden vor einigen Jahren in Shangri-La umbenannt wurde – nach dem legendären Ort aus James Hiltons Roman Lost Horizon. Vielleicht, weil es in der Geschichte wie eine Erlösung wirkte, diesen Ort zu erreichen. Vielleicht, weil nach solch einem mühsamen Aufstieg alles andere wie Frieden und Harmonie erscheint.
Ein gut erhaltenes, altes tibetisches Haus fällt mir ins Auge. Ich lese: „Atelier für Thangka-Malerei“. Es war schon immer ein Traum von mir, mich in buddhistischer Ikonografie zu versuchen. Der Thangka-Meister empfängt mich freundlich – und ich spüre sofort eine stille Vertrautheit mit seiner Arbeit. Mein Blick gleitet über die Bildrollen. Zweitausend Jahre alte Geschichten füllen den Raum. Sie erzählen vom Buddha, von der Heilkunst, von Geografie – und sie sind stille Zeugen des alltäglichen Lebens der Tibeter.
Ich setze mich an einen großen Holztisch. Sanft fällt das Licht auf das Papier. Langsam taucht mein feiner Pinsel in die Naturfarben, gewonnen aus Pflanzen und Mineralien. Mein Geist führt meine Hand. Meine Hand führt die Spitze des Pinsels.
IV BENZILAN (奔子栏)
Ich sehe
Geist und Körper in Einklang – ich entscheide mich, weiter nach Norden zu reisen, der Tea Horse Road folgend. Ich sehne mich nach positiver Energie. Diese Region zählt zu den artenreichsten der Erde – dank der drei parallel verlaufenden Flüsse: Yangtze, Mekong und Nujiang. Mein Weg führt tiefer in die tibetischen Wälder, zu kühlen, klaren Bächen auf 3.400 Metern Höhe, gespeist vom schmelzenden Schnee. Entlang des Pfads trotzen mir Pilze in großer Vielfalt. Steinpilze und Pfifferlinge erkenne ich mit Leichtigkeit. Mit etwas Hilfe entdecke ich auch tibetischen Röhrling und Schwefelporling.
Immer wieder stoße ich auf kleine Steinhaufen. Ob sie der Orientierung dienen oder einfach den Weg säumen, bleibt mir verschlossen. Die letzten warmen Sonnenstrahlen durchbrechen das dichte Blätterdach. War es das tibetische Segensritual am Morgen, das noch nachwirkt? Ist es die Harmonie in mir – oder diese überwältigende Landschaft, die in mir nachhallt und etwas in Bewegung setzt, das größer ist als all die Eindrücke, die ich mit meinen Sinnen auf dieser Reise gesammelt habe?
Unzählige Kilometer liegen noch vor mir – nordwestlich, weiter entlang der Tea Horse Road, tief hinein ins tibetische Hochland. Jeder Meter hinter mir ist klar, rein, vergangen. Jeder Meter vor mir: ein unentdecktes Abenteuer. An dieser Weggabelung beginnt die eigentliche Wandlung – eine Erfahrung voller kultureller Vielfalt, in jedem Augenblick, mit all meinen Sinnen.























