
Über Rückzug, Nachhaltigkeit und zur Kunst an sich – Interview mit Jacopo Di Cera
Ein Gespräch mit dem renommierten italienischen Künstler Jacopo Di Cera. Von seiner umweltfokussierten Kunstinstallation „Retreat“ über weitere bedeutende Werke bis hin zu tiefgründigen Gedanken zur Verbindung von Kunst und Nachhaltigkeit – dieses Interview lädt Leser:innen ein, in den brillanten Geist von Jacopo einzutauchen. Dabei geht es nicht nur um den Künstler selbst, sondern auch um die Werke, die ihn umgeben und die das Beste aus dem Spannungsfeld von Kreativität und Nachhaltigkeit herausholen. Lies weiter und lerne Jacopo Di Cera kennen.
L – Luxiders Magazine
JDC – Jacopo Di Cera
L: Ihre Werke „Fino alla fine del Mare“ und „Il rumore dell’assenza“ rufen kraftvolle Spuren von Fotomaterialismus, Emotion, Bruch und Erinnerung hervor. Erzählen Sie uns mehr über diese Arbeiten – und welche weiteren Themen kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an diese Werke denken?
JDC: „Fino alla fine del Mare“ ist eine Arbeit, die aus der Dringlichkeit der Migration heraus entstanden ist. Sie besteht aus Nahaufnahmen von Flüchtlingsbooten, die an den Stränden von Lampedusa zurückgelassen wurden – Objekte, die Leben, Ängste und Hoffnungen getragen haben.
Durch die Sprache des Fotomaterialismus integriere ich Fragmente realer Materialien – Salz, Rost, Holz – und verwandle dokumentarische Spuren in abstrakte Kompositionen. So wird Materie zum Zeugnis, und Abstraktion zur Erinnerung. „Il rumore dell’assenza“ spricht von einer anderen Art von Trauma: dem verheerenden Erdbeben in Amatrice. Die Werke sind zerbrechlich, gebrochen, bewusst unvollständig – jedes Stück ein Echo dessen, was verloren ging, und dessen, was in der Stille bleibt.
Beide Projekte erkunden Themen wie Bruch, Überleben und die unsichtbaren Spuren menschlicher Präsenz.


L: Dein umweltfokussiertes Kunstwerk „Retreat“, das auf der Art Dubai 2025 präsentiert wurde, entstand in Zusammenarbeit mit CIFRA, Tim Maiwald von So Much (Trash) Studio sowie The Astronut (Massimiliano Ionta). Wie kam dir die Idee und der Name für dieses Projekt, und welche Themen waren für dich beim Entstehungsprozess besonders zentral?
JDC: „Retreat“ wurde als vertikale Elegie für eine verschwindende Welt konzipiert. Die Idee entstand während meiner Recherchen zum Brenva-Gletscher – wie sich sein physisches Zurückweichen mit unserem eigenen emotionalen Rückzug von der Natur spiegelt. Der Name spiegelt sowohl einen geografischen als auch einen psychologischen Rückzug wider.
Das ist ein Notfall. Die Zahlen zeigen, wie schnell dieser Trend voranschreitet. Aber die Menschen wollen es nicht sehen. Der einzige Weg, „Bewusstsein“ zu schaffen, ist über Emotion. Ein Schlag in den Magen. Das ist Retreat.
L: Das Werk „Retreat“ ist nicht nur ein Kunstprojekt mit null Umweltbelastung – es wird auf 40 vollständig nachhaltigen, upgecycelten Monitoren präsentiert –, sondern auch eine digitale, unendliche Videoschleife über das tragische Verschwinden, den „Rückzug“, eines der bedeutendsten Gletscher der Welt: des Brenva-Gletschers am Mont Blanc. Bitte beschreiben Sie uns die Erzählung und Motivation hinter dem Projekt.
JDC: Die Erzählung entfaltet sich vertikal – wie ein Gletscher selbst. 40 Monitore, gestapelt und ausgerichtet wie Eisschichten, zeigen den langsamen Kollaps des Brenva-Gletschers – eine visuelle Symphonie, in der sich Eis unaufhörlich in Wasser verwandelt. Die Installation wird zur Metapher: Jeder verkaufte Monitor entfernt ein Segment – so wie jedes Jahr ein Stück des Gletschers dahinschmilzt. Meine Motivation war es, wissenschaftliche Daten in eine emotionale Sprache zu übersetzen, um den Verlust spürbar zu machen – nicht nur begreifbar. Es ist eine Elegie in Pixeln.
L: „Retreat“ vereint Themen wie Nachhaltigkeitsbewusstsein, tragischen Rückgang des Brenva-Gletschers und ein Gefühl von Nostalgie. Ist Nostalgie ein wiederkehrendes Thema in Ihren Arbeiten?
JDC: Ja und nein. Nostalgie ist manchmal wie ein Filter, durch den ich die Welt betrachte. Aber nicht im romantischen Sinne. Es ist die Nostalgie dessen, was verschwindet – während wir zusehen. Eine Nostalgie für die Zukunft, die wir verlieren. „Retreat“ erzeugt genau diese Emotion. In anderen meiner gesellschaftlichen Arbeiten liegt der Fokus anders: In „Sospesi“, in meinen zenitalen Fotografien vom Atem des Sommers und Winters, steckt über ein Jahrzehnt an Arbeit – und die älteren Aufnahmen erzeugen ein anderes Gefühl als die neueren. Aber ich denke, das ist eine natürliche Entwicklung dessen, was ein historisches Foto im Vergleich zu einem zeitgenössischen auslöst.


L: Wenn du Kunst schaffst, die ein tiefes Bewusstsein für Nachhaltigkeit erzeugt – kommt die Inspiration dafür schon vor dem kreativen Prozess, währenddessen oder erst danach?
JDC: Nachhaltigkeit ist ein so aktuelles und starkes Thema, dass es uns in jedem Moment und in jeder Jahreszeit umgibt. Mehr und mehr. „Retreat“ entstand, als ich für eine kommerzielle Arbeit auf dem Mont Blanc war. Während ich mit meinen Drohnen flog, sah ich von oben die Auswirkungen des Rückzugs – und meine Augen blieben stehen. Mein Geist war zutiefst beeindruckt. Ich begann das Bedürfnis zu spüren, etwas zu tun, etwas zu sagen.
L: Wenn Sie der Welt eine Weisheit mit auf den Weg geben könnten, wenn es um den Umgang mit unserer Umwelt geht – wie würde sie lauten?
JDC: Warte nicht, bis etwas verschwunden ist, um zu erkennen, dass es heilig war. Lerne, das Unsichtbare zu sehen, bevor es nicht mehr da ist.
L: Neben der Nachhaltigkeit als zentrales, inspirierendes Element Ihrer Kunst – gibt es auch andere Kunstformen (wie Film oder Literatur), die Sie dazu motivieren, nachhaltige Werke zu schaffen?
JDC: Absolut. Literatur wie Italo Calvinos Unsichtbare Städte erinnert mich an die Zerbrechlichkeit von Welten – realen wie imaginären. Filme wie Leviathan oder Anthropocene bieten sinnliche Erfahrungen ökologischer Spannungen. Doch das Inspirierendste ist die Realität selbst.

L: „Retreat“ ist eines Ihrer neuesten und zweifellos außergewöhnlichsten Werke. Welche zukünftigen Ideen möchten Sie als Nächstes zum Leben erwecken?
JDC: Mit „Retreat“ hatte ich das Gefühl, eine Tür geöffnet zu haben – eine Sprache, bestehend aus vertikalen Video-Loops, upgecycelter Technologie und Klanglandschaften, die ökologische Daten in Emotionen verwandeln. Nun möchte ich diese Sprache weiterentwickeln. Ich arbeite daran, „Retreat“ zu einem größeren Werkkomplex auszubauen, der sich mit weiteren großen Umweltkrisen auseinandersetzt, die durch den Klimawandel verursacht werden: Dürre, Überschwemmungen, Waldbrände.
All diese Phänomene hinterlassen Spuren – sichtbare und unsichtbare – und ich möchte sie in neuen Medieninstallationen übersetzen, die derselben visuellen und auditiven Grammatik folgen.
Mein Ziel ist es, eine Konstellation von Werken zu schaffen, die unsere gemeinsame ökologische Angst thematisieren – Kunst als Medium des Zeugnisgebens, der Übersetzung und der Erinnerung. Dasselbe immersive, sinnliche Format – in dem das Verschwinden Gestalt annimmt – kann zum Träger neuer Erzählungen über Zerbrechlichkeit, Dringlichkeit und Fürsorge werden.
L: Welches Wort kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie ein Kunstwerk erschaffen, das die Welten von Kunst und Natur miteinander verbindet?
JDC: Wechselseitigkeit.
L: Wenn Sie der Welt noch einen Satz der Weisheit zum Thema Umweltschutz mitgeben könnten – welcher wäre das?
JDC: Schützen Sie, was wir nicht neu erschaffen können. Nicht nur für uns, sondern für alle kommenden Generationen.
