Paolo Carzana, Spring/Summer 2025, How to Attract Mosquitoes. Headwear and creative consulting by Nasir Mazhar. Styling and creative consulting by Patricia Villirillo. Photograph by Joseph Rigby. Courtesy of Paolo Carzana.

Dirty Looks | Begehren und Verfall in der Mode

In einer Welt, die von Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit beherrscht wird, in der Kleidungsstücke geboren werden, nur um schon bei ihrer Entstehung der eigenen Obsoleszenz geweiht zu sein, kehrt Schönheit dort zurück, wo wir sie am wenigsten erwarten. Die zeitgenössische Mode richtet ihren Blick wieder auf das Unvollkommene — auf das, was das System zu tilgen oder zu verbergen versucht hat. Im Barbican in London entfaltet sich die Ausstellung Dirty Looks: Desire and Decay in Fashion als sinnliche Reise durch ein halbes Jahrhundert materieller Rebellion. Doch unter ihrer Oberfläche liegt mehr als eine ästhetische Neubetrachtung: eine neue Ethik der Zeit. Eine Versöhnung mit dem Stoff der Welt und der Vergänglichkeit der Dinge. Kuratiert von Karen Van Godtsenhoven und Jon Astbury ist die Schau bis zum 25. Januar 2026 in der Barbican Art Gallery zu sehen — und zählt zu den wichtigsten Ausstellungen der Saison in London.

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In den frühen 1980er-Jahren verwandelten Vivienne Westwood und Malcolm McLaren zerrissene Kleidung in ein politisches Statement. Zwischen Sicherheitsnadeln, Leder und aufgerissenen Nähten eröffnete der Punk eine Ästhetik des Widerstands – eine Art, Ordnung durch Stoff und Körper zu trotzen. Kleidung war nicht länger Dekoration, sondern Waffe, eine Sprache des Protests. Diese Rebellion, geboren aus Dringlichkeit und Mangel, war zugleich eine frühe Geste der Nachhaltigkeit: Wiederverwenden, Flicken, Verlängern der Lebensdauer von Dingen. Statt mehr zu produzieren, machte der Punk Abnutzung sichtbar und reklamierte sie als Zeichen von Identität. Vier Jahrzehnte später erben zirkuläre Mode und Upcycling diesen Geist – übersetzt in eine andere Sprache, aber noch immer im Dienst des Wiedergebrauchs und des bewussten Umgangs mit Ressourcen, als Gegenkraft zu einem Modesystem, das von Überproduktion und Ausbeutung geprägt ist.

Am entgegengesetzten Ende von Punks Zorn, doch getragen von einer ähnlichen Sensibilität für die Zeit, entstand die japanische Philosophie des Wabi-Sabi im Westen als Erinnerung daran, dass Perfektion kein universeller Wert ist. Was erodiert, reißt oder verblasst, trägt ebenfalls Wahrheit in sich. Designer*innen wie Rei Kawakubo, Yohji Yamamoto und Issey Miyake verwandelten durch diesen Blick das Ideal der Mode. Falten, Asymmetrien und abgenutzte Stoffe wurden zu Formen der Freiheit. Gegen die westliche Obsession mit dem Makellosen schlägt Wabi-Sabi eine Ethik der Fürsorge und Vergänglichkeit vor – eine Art, Schönheit in dem zu erkennen, was sich verändert oder verschwindet. In diesem Blick liegt der Ursprung dessen, was wir heute nachhaltige Mode nennen: eine Art des Schaffens, die Materialien respektiert, Prozesse ehrt und die Zeit als Teil des Werkes versteht.

Yodea-Marquel Williams, Ulmi, Graduate Collection 2024, Elm. Photograph by Callum Hansen. Courtesy of Yodea- Marquel Williams.
© Yodea-Marquel Williams, Ulmi, Graduate Collection 2024, Elm. Photograph by Callum Hansen. Courtesy of Yodea- Marquel Williams.
Piero D’Angelo, Physarum Lab. Photograph by Ellen Sampson.
© Piero D’Angelo, Physarum Lab. Photograph by Ellen Sampson.
Robert Wun, The Yellow Rose, Time, Haute Couture Autumn/Winter 2024. Photograph by Ellen Sampson.
© Robert Wun, The Yellow Rose, Time, Haute Couture Autumn/Winter 2024. Photograph by Ellen Sampson.
Paolo Carzana, Spring/Summer 2025, How to Attract Mosquitoes. Headwear and creative consulting by Nasir Mazhar. Styling and creative consulting by Patricia Villirillo. Photograph by Joseph Rigby. Courtesy of Paolo Carzana.
© Paolo Carzana, Spring/Summer 2025, How to Attract Mosquitoes. Headwear and creative consulting by Nasir Mazhar. Styling and creative consulting by Patricia Villirillo. Photograph by Joseph Rigby. Courtesy of Paolo Carzana.
Hussein Chalayan, The Tangent Flows, 1993. Photograph by Ellen Sampson.
© Hussein Chalayan, The Tangent Flows, 1993. Photograph by Ellen Sampson.
IAMISIGO, handwoven raffia-cotton blend look dyed with coffee and mud, Shadows, Spring/Summer 2024. Photograph by Fred Odede. Courtesy of IAMISIGO.
© IAMISIGO, handwoven raffia-cotton blend look dyed with coffee and mud, Shadows, Spring/Summer 2024. Photograph by Fred Odede. Courtesy of IAMISIGO.
IAMISIGO, clay-dyed barkcloth dress, Shadows, Spring/Summer 2024. Photograph by Fred Odede. Courtesy of IAMISIGO.
© IAMISIGO, clay-dyed barkcloth dress, Shadows, Spring/Summer 2024. Photograph by Fred Odede. Courtesy of IAMISIGO.
Paolo Carzana, Autumn/Winter 2025, Dragons Unwinged at the Butchers Block. Headwear and creative consulting by Nasir Mazhar. Styling and creative consulting by Patricia Villirillo. Photograph by Joseph Rigby. Courtesy of Paolo Carzana.
© Paolo Carzana, Autumn/Winter 2025, Dragons Unwinged at the Butchers Block. Headwear and creative consulting by Nasir Mazhar. Styling and creative consulting by Patricia Villirillo. Photograph by Joseph Rigby. Courtesy of Paolo Carzana.
Models mud wrestling at Elena Velez’s Spring/Summer 2024 presentation, The Longhouse. Photo by Jonas Gustavsson for The Washington Post via Getty Images.
Models on the catwalk Elena Velez fashion show in Brooklyn during New York Fashion Week, September 13 2023. (Photo by Jonas Gustavsson for The Washington Post via Getty Images)

Dirty Looks zeichnet diese Genealogie der Unvollkommenheit durch radikale Gesten nach, die die jüngere Modegeschichte geprägt haben. Unter ihnen nimmt Hussein Chalayans The Tangent Flows (1993) eine zentrale Position ein. Für diese Kollektion vergrub Chalayan Kleidungsstücke zusammen mit Eisenfeilspänen und ließ Erde, Feuchtigkeit und Oxidation sie über Monate hinweg verwandeln. Als sie wieder ausgegraben wurden, hatten sich Farbe und Textur verändert – sie waren zu archäologischen Artefakten geworden, fast zu Fossilien ihrer selbst. Chalayan entwarf nicht gegen die Zeit, sondern mit ihr. Sein Werk antizipierte eine Frage, die für die zeitgenössische Mode immer wichtiger wird: Wie kann man mit der Natur zusammenarbeiten, statt sie zu beherrschen?

Diese Sensibilität prägt auch eine neue Generation von Designer*innen, die in der Unvollkommenheit einen fruchtbaren Boden finden, um die Beziehung zwischen Mode und Ökologie neu zu denken. Paolo Carzana färbt seine Stoffe mit natürlichen Pigmenten und vernäht sie von Hand in dem, was er ein angezogenes Gebet nennt. Solitude Studios lässt Schlamm und Torfwasser dänischer Moore ihre Texturen auf Stoff hinterlassen. Elena Velez arbeitet mit Stahl und Ton in Shows, die Zeremonien der Erosion ähneln, in denen Schlamm zum heiligen Material wird. Ihre Praktiken geben der Mode eine rituelle Dimension zurück – jedes Kleidungsstück eine Zusammenarbeit mit den Elementen, die menschliche Fragilität ebenso offenlegt wie die Kraft der Natur. Fernab industrieller Produktion laden diese Arbeiten dazu ein, Mode als Ökologie statt als Ökonomie zu verstehen, bei der nicht das Endprodukt zählt, sondern der Prozess, der Kreislauf, die fortwährende Transformation.

Doch Dirty Looks geht über Materialität hinaus und untersucht die Beziehung zwischen Unvollkommenheit, Körper und Begehren. Designer*innen wie Michaela Stark und Robert Wun verwandeln Verletzlichkeit in eine erotische Sprache und erinnern daran, dass Sinnlichkeit nicht in Perfektion, sondern in Einzigartigkeit liegt. Stark enthüllt durch ihre skulpturalen Korsetts Falten und Spannungen der Haut als Spuren emotionaler Wahrhaftigkeit. Wun hingegen nutzt Feuer und Flecken als Symbole der Reinigung und erschafft Kleider, die wirken, als hätten sie Rituale der Metamorphose durchlaufen. In Bubu Ogisis Arbeiten werden Pflanzenfasern und Naturfarbstoffe zu Formen spiritueller Heilung – ein Weg, sich mit den eigenen Wurzeln zu verbinden und Materialien, die durch Kolonisation und Massenproduktion ihrer Bedeutung beraubt wurden, wieder Sinn zu verleihen. Jede dieser kreativen Positionen stellt dieselbe Frage: Können wir uns mit der Unvollkommenheit versöhnen – ohne Angst, Schuld oder Nostalgie?

Dirty Looks: Desire and Decay in Fashion zeigt Mode nicht als Produkt, sondern als Spur, als sichtbar gewordene Erinnerung. Fernab des Glanzes des Laufstegs offenbaren Kleidungsstücke ihre Verletzlichkeit und zeigen, dass in der Schönheit des Verfalls eine tiefere Wahrheit liegt. In der Spannung zwischen dem, was zerfällt, und dem, was sich erneuert, erinnert uns die Ausstellung daran, dass Nachhaltigkeit nicht bei den Materialien beginnt, sondern bei der Wahrnehmung – bei der Art, wie wir lernen zu sehen, was altert, sich verändert und aufhört, neu zu sein.

Zu sehen in der Barbican Art Gallery, London, bis zum 25. Januar 2026.

Hussein Chalayan, Cartesia, Autumn/Winter 1994. Photograph by Ellen Sampson.
© Hussein Chalayan, Cartesia, Autumn/Winter 1994. Photograph by Ellen Sampson.
Yuima Nakazato, Couture Spring/Summer 2023 INHERIT. Photograph by Morgan O’Donovan.
© Yuima Nakazato, Couture Spring/Summer 2023 INHERIT. Photograph by Morgan O’Donovan.
Maison Margiela, Artisanal Spring/Summer 2024. © Catwalkpictures
Maison Margiela, Spring-Summer 2024, Couture, Paris, France
Comme des Garçons, Autumn/Winter 2005, Broken Bride ©Catwalkpictures.
© Comme des Garçons, Autumn/Winter 2005, Broken Bride ©Catwalkpictures.
Hussein Chalayan, Temporary Interference, Spring/Summer 1995. Courtesy of Niall McInerney/Bloomsbury/Launchmetrics/Spo tlight.
© Hussein Chalayan, Temporary Interference, Spring/Summer 1995. Courtesy of Niall McInerney/Bloomsbury/Launchmetrics/Spo tlight.
Miguel Adrover wears a look from Out Of My Mind, his Autumn/Winter 2012 collection.
© Miguel Adrover wears a look from Out Of My Mind, his Autumn/Winter 2012 collection.

Words: Belén Vera

All Images:
© Courtesy by Barbican Art Gallery

Barbican Art Gallery

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