Verschmelzung des künstlerischen Flusses | Interview mit James Gilbert

Von Skulptur bis Performancekunst – der in Los Angeles ansässige Künstler James Gilbert erschafft mit seiner Kunst eine faszinierend einzigartige Welt. Wir haben Gilbert nach seinen Erfahrungen vor und nach dem Schaffensprozess sowie nach seinen Inspirationsquellen gefragt.

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Der in Los Angeles lebende, vielseitige Künstler James Gilbert zählt wohl zu den eindrucksvollsten transformativen Talenten der Kunstwelt: Was ihn inspiriert, ist ein Verschmelzen von „allem“ – ein künstlerischer Schmelztiegel, der in seinem Werk eine tiefere Bedeutung findet. Das Verschmelzen von Momenten wird unter Gilberts Händen zu etwas Faszinierendem, denn er interpretiert Materialien auf eine Weise, die seinem sinnlichen, naturverbundenen und bedeutungsvollen Schaffensprozess entspricht.

Doch was James Gilbert präsentiert, geht über einen künstlerischen Fluss hinaus – es sind Meilensteine, Zeitzeugnisse und Kommentare zu den Herausforderungen und Umbrüchen unserer Zeit. „Für mich ist Kunst nur dann kraftvoll in ihrer Fähigkeit, das kollektive Bewusstsein zu formen, wenn wir aktiv beteiligt sind, aufmerksam bleiben und bereit sind, tief zu denken und dementsprechend zu handeln“, erklärt der Künstler auf die Frage nach seiner Wahrnehmung von Kunst.

Hier ist ein fesselndes Interview mit James Gilbert über seine Kunst und ihren gesellschaftlichen Stellenwert.

L – Luxiders Magazine

PD – James Gilbert

L: Ihre Arbeiten werden oft als transzendent beschrieben und schaffen eine Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unfassbaren. Könnten Sie uns erläutern, woher Sie Ihre Inspiration schöpfen?

JG: Ich hinterfrage nicht, was mich interessiert. Ich möchte möglichst viele scheinbar unvereinbare Ideen miteinander kombinieren, um sie in meiner künstlerischen Praxis als Gesprächsanlass zu nutzen. So gehe ich durch meinen Alltag – ich sammle so viele Informationen wie möglich und richte mein Denken und Handeln danach aus. Ich glaube, meine Arbeiten müssen genauso funktionieren – als Momente und Hinweise, die ein Gespräch verdienen. Wenn ich eine Idee zu schnell durchdringe, interessiert sie mich nicht genug, um sie umzusetzen. Gedanken, die länger in mir nachhallen und eine tiefere Auseinandersetzung erfordern – das sind jene, denen ich mich visuell widme.

L: Wie sind Sie zur Kunst gekommen? Erinnern Sie sich an einen bestimmten Moment, der Ihnen klargemacht hat, dass dies Ihr Weg sein wird?

JG: Ich kannte das Wort „Künstler“ oder dessen Bedeutung zunächst nicht. Ich erinnere mich nur deutlich daran, dass ich Dinge erschaffen wollte – Objekte bauen, Umgebungen gestalten, Musik machen, Geschichten erzählen. Als ich an die Universität kam, erkannte ich, dass ich Arbeiten über Themen machen konnte, die mir wichtig sind – Ideen und Philosophien miteinander kombinieren, die ich diskutieren und erforschen wollte. Das war der spannende Moment. Ich hörte auf, meine Notizbücher in Skizzen und Konzepte zu unterteilen. Als ich alles zusammenführte, entstand eine dynamische Wechselwirkung von Themen.

L: Als vielseitiger Künstler, der von Skulpturen über Performances bis hin zu Installationen und Videos arbeitet – was hat Sie dazu bewegt, verschiedene Disziplinen auszuprobieren?

JG: Ich mag Momente. Die Momente, die Ideen, Handlungen und das Verhalten von Menschen und Gemeinschaften formen. Ich spreche nicht nur von großen Lebensereignissen – auch kleine, flüchtige Interaktionen können bedeutungsvoll sein. Trauer, Freude, Lachen, Schmerz – nichts ist tabu. Wenn es sich lohnt, darüber nachzudenken oder zu sprechen, ist es für meine Arbeit relevant. Mein Studium der Musik und Literatur sowie die Arbeit im Theater und Film haben mir gezeigt, wie wichtig greifbare Ergebnisse sind, die auf Geschichte, Wissenschaft und der Beobachtung menschlicher Natur beruhen. Die Werke müssen inhaltlich verankert sein.

L: In Ihrer Arbeit scheint die Materialwahl eine zentrale Rolle zu spielen. Sie bevorzugen rohe Materialien wegen ihrer metaphorischen Bedeutung. Können Sie uns mehr über Ihre Sicht auf das Verhältnis zwischen Werk und Material erzählen?

JG: Ich betrachte Rohmaterialien im gleichen Sinne, wie man auch das Werk selbst beschreiben würde. Deshalb ist es mir wichtig, flexibel mit Materialien umzugehen – ich würde keines ausschließen, wenn es der Idee dient. Die Idee ist immer das Wichtigste. Rohes Holz zum Beispiel hat Makel und Geschichte. Wenn ich eine Holzskulptur über Herkunft oder Tradition fertige, sind die Worte, die ich benutze, passend – wer von uns ist frei von Fehlern oder Geschichte? Wenn ich weiche Skulpturen aus Plastik nähe, passen Begriffe wie künstlich oder massenproduziert. Beim Färben und Nähen von Textilien liegt die Bedeutung im körperlichen Arbeitsprozess. Baue ich eine Stampflehmwand – eine der ältesten Bautechniken – soll der Betrachter den Sinn des Materials hinterfragen. Wäre dieselbe Wand aus Stein oder Schokoriegeln gefertigt, hätte sie eine völlig andere Bedeutung.

L: Ihre Kunst greift Themen wie Rassismus, historische Konflikte und politische Spaltung auf. Welche Rolle hat Kunst Ihrer Meinung nach bei der Bildung des individuellen und kollektiven Bewusstseins?

JG: Zunächst hoffe ich mutig, dass sich das Publikum engagieren möchte. Wir leben in einer Zeit, in der „zu lang zum Lesen“ wichtiger ist als ein fertiger Roman. Ich schätze Recherche und sehe es als meine Verantwortung, mit meinen Arbeiten die richtigen Fragen zu stellen, ohne meine Handschrift zu offensichtlich zu machen. Kulturerbe, Artefakte und Kunst existieren, weil wir unsere Zeit besser verstehen und künftigen Generationen etwas mitgeben wollen. Das erfordert eine verlässliche historische Interpretation. Doch auch Interpretation birgt Risiken. Kunst hat für mich nur dann eine prägende Kraft für das kollektive Bewusstsein, wenn wir aktiv, aufmerksam und bereit sind, tief zu denken – und danach zu handeln.

L: In dieser unruhigen Zeit – finden Sie, dass Künstler eine Verantwortung haben, gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen?

JG: Ja, aber ich glaube auch, dass niemand eine Meinung aufgezwungen bekommen möchte. Ich nutze eine Art „visuelle Verteidigungsstrategie“ – das bedeutet: Ich nehme mir schwierige Themen vor, präsentiere sie aber mit einer sanften Einstiegsebene durch Farben, Formen und Humor. Sehen Sie sich meine Titel an – ich investiere Zeit in sie, um eine ausgewogene Perspektive zu vermitteln.

L: „Die Trauer zu ehren“ und sie mit Humor zu interpretieren ist ein ganz eigener Blick auf die Welt. Ihre Werke haben auch einen sehr charakteristischen Stil. Wie hat sich dieser Stil entwickelt? Gab es Einflüsse oder Vorbilder?

JG: Eine schöne Frage, weil sie schwer zu beantworten ist. Wahrnehmung ist alles. Ich bewundere Künstler, die nachdenklich und zugleich spielerisch oder respektvoll vorgehen. Die Trauer mit Humor zu würdigen – das verstehe ich wie ein Gespräch mit einer fremden Person: Ich würde nicht mit harten Fakten oder abschließenden Aussagen beginnen, das wäre abschreckend. Ich beginne lieber mit einer Anekdote, die sich zu einem Dialog entwickelt. Für mich stammen Trauer und Humor aus derselben Quelle – beides sind emotionale Reaktionen. Ihre Deutung hängt von der Person und deren Lebensentwurf ab. Stil ist, wie man sich durch die Welt bewegt. Ich erlaube meinen Werken, voller Widersprüche zu sein. Sie sind präzise und doch bewusst unperfekt. Sie sind komplex, ernst – und effizient.

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For the First Time I Really Saw Beyond the Appearances, 2017
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A Mystery, Fetish, Neurosis and Fragmentation of Ourselves, 2017
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Kneel, 2020, wood, stain, metal, pigment, wax, 20 x 22 x 22 inches

L: Könnten Sie uns bitte etwas über einige Ihrer Werke erzählen, die wir besonders schätzen? Was war die Inspiration, welche Botschaft wollten Sie vermitteln, wie verlief der Schaffensprozess – und wie würden Sie die Werke heute im zeitgenössischen Kontext bewerten?

L: For the First Time I Really Saw Beyond the Appearances, 2017

JG: Nachdem ich eine Reihe großer Installationen über die bewusste Zerstörung kulturellen Erbes und symbolisch bedeutender Architektur geschaffen hatte, wollte ich das Thema auf kleinere Objekte übertragen. Es gibt eine archäologische Tradition von Objekten, die Fruchtbarkeit, Fetische, symbolische Rituale oder Unterhaltung darstellen – sie alle trugen Bedeutung für den Hersteller und die jeweilige Gemeinschaft. Durch kulturelle Zerstörung kann dieses Erbe verloren gehen – und damit auch individuelle Identität. Ich fertige fiktive Objekte, die ähnlich wie verlorene Artefakte funktionieren könnten. Sie widersetzen sich klarer Nutzung oder Interpretation, doch wir vermuten, dass sie aus gutem Grund existieren – wir müssen ihn nur finden. Dadurch erfahren wir mehr über unsere Geschichte – und über uns selbst.

L: A Mystery, Fetish, Neurosis and Fragmentation of Ourselves, 2017

JG: Als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war, war ich immer begeistert, in Bekleidungsgeschäften Ganzkörperspiegel zu entdecken. Ich stellte mich gern so neben sie, dass eine Körperhälfte vor dem Spiegel lag und die andere dahinter. Wenn ich Arme und Beine vor dem Spiegel bewegte, entstand eine täuschende, aber spielerische Symmetrie – wie eine Marionette beim Tanzen oder jemand auf einem unsichtbaren Fahrrad. Ich mochte diese Wahrnehmung von Bewegung und Verhalten. Für mich ist das eine Verdopplung des Selbst, ein Spiegelbild von Vertrauen und Identität – davon, wer wir sind oder vielleicht, wie wir uns präsentieren. Das Werk war stets dafür gedacht, am Boden in einer Ecke des Ausstellungsraumes gezeigt zu werden.

L: Kneel, 2020, Holz, Beize, Metall, Pigment, Wachs, 20 x 22 x 22 Zoll

JG: Dieses Werk begann mit einer ganz anderen Intention. Als ich an den Füßen arbeitete, drehte ich sie so, dass die Fußsohlen nach oben zeigten. Es war Nacht im Atelier, nur zwei kleine Lichter waren an, dazu fiel etwas Straßenlicht durchs Fenster. Die nach oben gerichteten Füße wirkten extrem verletzlich. Zu diesem Zeitpunkt geschah politisch, gesellschaftlich und gesundheitlich sehr viel. Ich erkannte, dass es kaum einen Unterschied gibt zwischen einer Haltung der stillen Einkehr und einem Zeichen der Unterwerfung oder des Nachgebens. Ich fertigte in diesem Moment eine neue Skizze an und verließ das Atelier für die Nacht.

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“How Much Earth for Sale?”, 2022
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“One Blank Round”, 2015

L: „How Much Earth for Sale?“, 2022

JG: Ich wollte eine der ältesten Bautechniken – Stampflehm (verdichtete Erde, um eine zementartige Struktur zu schaffen) – verwenden, um das Thema Landrechte zwischen Bürgern und ihrer eigenen Regierung zu beleuchten. Dabei bezog ich mich auf einen wegweisenden US-amerikanischen Gerichtsfall von 1823, in dem der Supreme Court mit seiner Entscheidung ein Monopol für die US-Regierung schuf, um Land der indigenen Bevölkerung zu möglichst niedrigen Kosten zu erwerben. Für mich ist das Werk ein Denkmal für diejenigen, mit denen wir nicht übereinstimmen – die Erde trennt ein Zuhause, Ein- und Ausgang sind blockiert, es gibt keinen Zugang, um das Haus nutzbar zu machen. Der Hausrahmen ist dem eines Monopoly-Spielfiguren-Häuschens nachempfunden, die Linien sind in einem warnenden, sicherheitsbezogenen Orangeton gestrichen. Ein geteiltes Haus ist ein Motiv, das sich leicht auf viele gesellschaftliche Themen übertragen lässt, die wir täglich verhandeln.

L: „One Blank Round“, 2015

JG: Ich hinterfrage nicht, was mich interessiert – alles, was ich in den Nachrichten lese, in Büchern finde oder in Podcasts höre, kann Ausgangspunkt für eine vertiefte Auseinandersetzung sein – selbst komplexe oder schwierige Themen. Ich hatte über einen Mann gelesen, der zum Tode verurteilt worden war. In seinem Bundesstaat wurde üblicherweise die Giftspritze eingesetzt, aber er wollte durch ein Erschießungskommando sterben, was bereits verboten war. Seine Entscheidung sollte möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit auf seinen Fall lenken. Ein Bericht über Erschießungskommandos beschrieb, dass mehrere Personen gleichzeitig schießen, aber nur eine Waffe scharfe Munition enthält – die anderen nur Platzpatronen. So bleibt unklar, wer den tödlichen Schuss abgegeben hat. Auf den ersten Blick geht es vielleicht um die Debatte zur Todesstrafe – für mich jedoch auch um eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche und der Frage, wie wir unser Verhalten mit Methoden und Begründungen rechtfertigen.


L: Was sind die größten Herausforderungen, denen Sie bei der künstlerischen Arbeit begegnen?

JG: Geduld. Aber ich hoffe auf eine größere, weiterführende Diskussion.


L: Gibt es anstehende Projekte, die Sie gerne mit uns teilen möchten?


JG:
Ich arbeite derzeit an einem Projekt über Herkunft und Ahnenforschung, das Skulptur, Kinetik und Klang kombiniert. Ein weiteres Projekt, das für den Spätherbst geplant ist, wird eine Installation zum Thema Herkunft sein – eine Neuinterpretation von Erbstücken und deren Bedeutung im Kontext einer schnelllebigen Wegwerfgesellschaft.

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All Images: © James Gilbert Studio

Interview:
Tolga Rahmalaroglu
Luxiders Magazine Contributor

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